Nachdem ich die meisten Texte von Christina Thürmer-Rohr gelesen hatte, speziell die feministischen Vagabundinnen-Essays, sitze ich ihr dann doch wie ein leeres Blatt gegenüber und reflektiere ihre Gegenwart, ihre Präsenz – beobachte konzentriert, wie sie formuliert, sich erinnert, innehält, sucht, sich äußert, ergänzt, Gedankengebäude baut, die in ihrem Gesicht, in ihrem Körperausdruck sichtbar werden. Ist das Denken – was ich da sehe?
Sehen, schauen, einen Blick erhaschen, einen Ausdruck fixieren. Bilder in der Erinnerung. Einen Raum modellieren, in Gedanken, mit der Hand, mit Material. Stein, Eisen, Holz, Plastik – in der Cloud; mit Worten.
Nachdem ich mich in Filmen mit dem Atem, speziell der Atempause, dem Wasser und seinem Kreislauf befasst hatte, suchte ich nach einer Antwort auf die Frage: Wie sieht Denken aus? Die Plastik « Der Denker » von Auguste Rodin ist als Abbildung in jedem Schulbuch zu finden. Für Jungen, die in der Welt etwas werden wollen, kann so ein Abbild Vorbildfunktion haben. Rodin zeigt den nackten athletischen Körper eines Mannes in gebeugter Haltung. Eine Hand stützt das Kinn und verdeckt dabei den Mund. Die Augen liegen tief verschattet in ihren Höhlen. Schwere Gedanken scheinen auf ihm zu lasten. Der Mann steht unter Spannung. Dieses französische Nationaldenkmal, für das der muskulöse Preisboxer und Ringer Jean Baud Modell stand, wird als Symbol menschlicher Vernunft und Schöpferkraft angesehen.
« Die Denkerin », die mir im Café Einstein in Berlin gegenübersitzt, Christina Thürmer-Rohr, wirkt zart, zerbrechlich – gehüllt in eine schwarze Lederjacke, ihr Blick freundlich prüfend, abwartend – konzentriert auf ihr Gegenüber. « Ich will einen Film über dich machen », sage ich und spüre, als der Satz heraus ist, auf dem Tisch liegt, ein Unbehagen. Ich fühle eine Verpflichtung in mir aufsteigen: Ein Mann, ein Wort. Denn ich habe Erfahrung und weiß, was es heißt, solch ein Angebot zu machen. Ein TV-Film, ein Kinofilm, ein freies Experiment, ein Low-Budget-Film – was kann es werden? Wer wird dafür Geld geben? Es kommen Zweifel auf. Denn im Gegensatz zu Rodins Denker bin ich kein kräftiger Muskelmann, weder körperlich, noch geschäftlich, der das Gedankenvolumen von Christina Thürmer-Rohr, das so klar und offen, scheinbar wie ein Leichtgewicht daherkommt, glaubt, stemmen zu können. Der Mut zu dieser Frage hat einen Vorlauf: Vor vierzig Jahren haben wir zusammengearbeitet, als die junge Professorin mich, den « Videopionier », zu einem ihrer Assistenten machte.
Die Grundlage für ein Filmprojekt ist ein Exposé. – Ich schreibe: Eine Denkerin aus Deutschland. Im offenen Gespräch: Nach Wesentlichem suchend, im Vielen und Verschiedenen, im Interesse an einer gemeinsamen Welt. Als Akt des Erinnerns inszeniert der Film Vergangenheit in der Gegenwart.
Wir treffen uns an einem Tag in ihrer Bibliothek und sprechen miteinander über ihr Leben.
Fragen, die sich klassisch am Verlauf ihres Lebens orientieren, sind Hilfsmittel, Antworten Zielpunkte, keine festgelegten Markierungen. Sie kreisen neben den Fragen zur Biografie um die Themen der Frauenbewegung: das Patriarchat und die Mittäterschaft von Frauen bei der Entstehung und Ausübung von Gewalt, die Bedeutung des Bösen. Wir sprechen über Schreiben und Denken, über Forschung und Lehre – über Musik. In den Denk-Pausen spielt CTR Klavier oder Orgel. Neben zwei Flügeln stehen diese beiden Instrumente in der Wohnung – und wir werden sie an den Drehtagen nutzen, das Musizieren als (Energie-)Quelle für das Weiter-Denken-Sprechen erfahren.
Wie wird die Protagonistin auf die Anwesenheit von Medien reagieren, die eindringen, herausfordern, festhalten – Beweise sammeln, Zeit abbilden? Deren technischen Blick auf ihren Körper? Ihr Gesicht, « Spiegel der Seele », Speicher von Informationen, « Datenträger », wird erkundet, erforscht, fixiert. Bilder aus dem Land der Wirklichkeit – das Bild als « Fenster zur Wirklichkeit ». In Anlehnung an das Denken von Hannah Arendt entsteht ein « Film ohne Geländer ».
Musik, orientiert an den Fugen von Johann Sebastian Bach – dem Prinzip der vielfachen Variation eines Themas –, bestimmt die Dramaturgie des Films auf einer Ebene, die scheinbar kontrapunktisch zur Biografie verläuft. Bach ist im Leben von Christiane Thürmer-Rohr eine Konstante, auf ihn war und ist immer noch Verlass. Das enge Korsett der Zeitmaschine Film wird geöffnet, um die Vielfalt des Lebens aufscheinen zu lassen. Zusammen mit CTR erkundet der Film die Bodenlosigkeit, die freies Denken auslösen kann.
Eine Filmkamera ist eine Zeitmaschine, sie verwandelt Licht in Bilder und nimmt den Ton in HiFi-Qualität auf. Film ist Zeit und Raum, in dem sich die Handlung ereignet. Filmarbeit ist eng verwandt der Tätigkeit einer Bildhauerin, eines Bildhauers. Nachdem ich die meisten Texte von Christina Thürmer-Rohr gelesen hatte, speziell die feministischen Vagabundinnen-Essays, sitze ich ihr dann doch wie ein leeres Blatt gegenüber und reflektiere ihre Gegenwart, ihre Präsenz – beobachte konzentriert, wie sie formuliert, sich erinnert, innehält, sucht, sich äußert, ergänzt, Gedankengebäude baut, die in ihrem Gesicht, in ihrem Körperausdruck sichtbar werden. Ist das Denken – was ich da sehe?
Unser Film bekam den Titel: anfangen.
« Ich bin eigentlich immer eine Anfängerin gewesen, ich habe immer wieder neu angefangen. – Also man ermüdet immer wieder von Dingen, die man zehn Jahre lang vielleicht richtig gefunden hat, man möchte Neues finden, auch neue Menschen, neue Gedanken, neue Sichten, neue Perspektiven auf die Welt finden. Und wenn man so ist oder so denkt, dann heißt das natürlich, dass man immer wieder zur Anfängerin wird. – Das heißt aber nicht, dass man beliebig mal das, mal das, mal das macht – das heißt es überhaupt nicht, sondern das heißt, dass man sich den Grundfragen, den Grundthemen immer wieder von anderen Seiten aus zu nähern versucht. Und wie gesagt, mit vollem Risiko. »
Christina Thürmer-Rohrs Texte erscheinen zeitlos, klingen frisch – die darin formulierten Gedanken sind brandaktuell. Viele ihrer ungezählten Wortschöpfungen liebe ich: « ichnah » ist so eine Konstruktion, die mein Wortempfinden reizt, mich zum Nach-Denken bringt. Was steht da nebeneinander? Ich und nah? Im Zusammenhang, in dem ich das Wort gefunden habe, meint es: Ahnung, Witterung. Will das Wort signalisieren, dass es eine Zeit geben könnte, in der ein noch unbekanntes ICH zu sich, dem bekannten ICH, in Verbindung tritt? Dass dieses ICH Vergangenheit und Zukunft nicht trennt, im Gegenwärtigen lebt?
anfangen wurde gut aufgenommen, wird immer noch oft gezeigt. Christina Thürmer-Rohr gilt mein Dank, nicht nur, weil sie sich mir anvertraut hat, sondern auch dafür, dass sie zu ungezählten Vorführungen quer durch Berlin und Deutschland gereist ist, mit dem Publikum in den meist ausverkauften Kinos diskutiert hat. Meine anfänglichen Bedenken haben sich umgekehrt in Freude und Dankbarkeit, dass uns ein solch schönes Lebensdokument gelungen ist. Es ist an der Zeit, dass Rodins Plastik « Der Denker » ein Gegenüber bekommt, eine Denkerin – ichnah.
P.S.: Film ist Teamarbeit, mein Dank gilt dem Gunda-Werner-Institut in der Heinrich-Böll-Stiftung, Laura Gallati für ihre Mitwirkung, Hedwig Korte für ihre Mitarbeit am Konzept – sowie Ute Freund (Kamera), Ivonne Gärber und Ulla Kösterke (Ton), Astrid Vogelpohl (Schnitt), Lutz Glandien (Tonmischung), kinoglas-films, Daniela Schulz (Produktion).